Peter Weiss – Die Ästhetik des Widerstands

Alkyoneus, Sohn der Ge (Gäa), von Athena im Haar gepackt, von einem Reptil gefesselt und vergiftet. Gipsabguss vom Pergamon-Altar, Antiken- und Abguss-Sammlung des Kunsthistorischen Instituts der Universität Bonn.

I.

„Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstnen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rükken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung.“ weiterlesen Suhrkamp Leseprobe

Suhrkamp, revidierte Neuausgabe 2016, 1199 Seiten

Alkyoneus und Athena mit der Göttin/Dämonin der Erde Ge (Gäa), die sich flehend aus dem Gesims emporstemmt und nach ihrem tödlich verwundeten Lieblingssohn Alkyoneus greift. Gipsabguss vom Pergamon-Altar, Antiken- und Abguss-Sammlung des Kunsthistorischen Instituts der Universität Bonn

Peter Weiss unfassbar dichtes Buch, das fast ohne Absätze in endlosen Sätzen den Kampf für eine neue, bessere Gesellschaftsordnung, den Kampf der kommunistischen Internationale und einen Kampf für Bildung und Erkenntnis des Proletariats anhand des persönlichen Schicksals des Protagonisten erzählt. Weiss spannt den historischen Bogen von den Arbeiterkämpfen nach dem ersten Weltkrieg, deren Niederschlagung, dem Scheitern der Einheitsfront, dem spanischen Bürgerkrieg und über das schwedische Exil hin in den kommunistischen Untergrund. Wie ein endloser Gedankenstrom gleitet er von Monolog zu Gespräch, vom Innen des Erzählers zum Aussen des Dialogs. Ohne Anführungszeichen geht Sprechen und Denken der Personen ineinander über, er verschmelzt die Zeitebenen von Beobachtung und Erinnerung und Exkurs zu einem Amalgam. Das Buch ist eine ‚Bleiwüste‘, endlos, und wie Monolith; und darin beinahe so unbezwingbar wie die Widerstände der herrschenden Ordnung, des Bürgertums, des faschistischen Feindes und des Stalinismus und letztendlich des Todes. Und nachdem ich mich durch diesen dichten Buchstaben-Block gekämpft hatte, schaue ich in grenzenloser Bewunderung auf diese Leistung von Peter Weiss, aus dem Zerrissenen, dem wütendem Wollen nicht nur einer, sondern vieler Gesellschaften im Umbruch, dem Arbeiterkampf, und der Kunst, etwas zusammenzuschmieden, das nicht mehr aufteilbar und spaltbar ist – eine Reparatur der Utopie der Einheitsfront in der Kunst/dem literarischen Werk. So eine Art Kraftwerk aus Kernfusion, statt Zerfall aus Spaltung.
Und dann gibt es darin Peter Weiss Schreiben über, oder besser durch die Kunst. Die Eingangssequenz über den Pergamon-Altar (siehe Link zur Leseprobe oben), die sich von der Beschreibung des Werkes direkt in die kritische Analyse der Beherrschung und Unterwerfung der Menschen durch die Mächtigen mittels des Repräsentationscharakters der Kunst begibt, und dann ebenso fließend in der Gegenwart der Protagonisten im nationalsozialistischen Berlin landet, diese Sequenz ist nicht zu überbieten. Ich habe nie zuvor eine solche Verbindung erlebt bzw. ‚gelesen‘: von Kunst, Mythos, sozialistischem Kampf, kritischer Analyse und packender Erzählung.
Eine zweite solche Sequenz bildet Weiss um Géricaults Floß der Medusa, einen kleineren dritten Knoten um Picassos Guernica und einen vierten, sehr umfangreichen, um ein literarisches Werk: Im schwedischen Exil beginnt Brecht ein politisches Theaterstück, das Engelbrekt-Projekt, über die schwedischen Bauernkriege. Alle Tragik der scheiternden Einheitsfront und des kommunistischen Untergrundkampfes wird hier schon vorweggenommen, wie eine unabwendbare Wiederholung der Geschichte auch in einer Verdopplung mit der jüngeren schwedischen Geschichte. Ein fünfter ist wie eine Klammer zum Pergamon-Altar, eine Erzählung über die antiken Tempelanlagen von Angkor und darin wieder die Manifestation von Macht und Fortschreibung der Unterwerfung.

Theodore Géricault. Das Floß der Medusa. Öl auf Leinwand, 491 × 716  cm, 1819. Abbildung gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org

Eine erwähnenswerte Analyse von Form und Funktionsweise ‚öffentlicher‘, also repräsentativer Kunst im Nationalsozialismus bietet die Publikation: Skulptur und Macht- Figurative Plastik im Deutschland der 30er und 40er Jahre, zur Ausstellung in der Kunsthalle Düsseldorf, 11.2. – 18.3.1984. Katalog der Akademie der Künste, Berlin.