Klaus Theweleit: Po-ca-HON-tas

HON – Warum Cortés wirklich siegte – Technologiegeschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen

2020. Matthes & Seitz, 609 Seiten

Der noch fehlende III. Teil aus Theweleits ab 1999 erschienener vierbändig angelegter Pocahontas-Reihe über die Kolonisierung Amerikas entlang eines roten (!) Fadens: die Figur (und der Körper) der roten Frau Pocahontas und den anderen indigenen Frauen, die als ‚mediale Frau‘ (Theweleit) die Verbindung zwischen den Eroberern und den ansässigen Völkern herstellen sowie die Funktionalisierung und Mythologisierung dieser Mittlerinnen durch die europäischen Kolonisatoren.

Was machte tatsächlich den Vorteil aus, der Cortés den Sieg über Moktezuma eintrug?
Theweleits These ist eine ‚eurasiatische‘ Gehirnstruktur, welche sich über die letzten 15.000 Jahre gebildet hatte und somit ein wesentlich unterschiedliches Denken und Handeln in der Interaktion und im Vergleich mit den amerikanischen Ureinwohnern. Die Entwicklungsschritte und
-Sprünge dieses Denkens verfolgt Theweleit bis in die Neuzeit.
Dieses Denken operiert mit internalisierten Konzepten von Segmentierung und Sequenzierung. Beginnend mit der Haustierdomestikation durch den frühen Menschen vor ca. 15.000 Jahren führt das Durchtesten der Säugetiere auf ihre Tauglichkeit, deren Auswahl und dann Züchtung zu einer Praxis der Selektion und bewussten Segmentierung also einer Reihenbildung. (Neben dieser entwickelten Kulturpraxis haben die eurasiatischen Menschen sich mit ihrem Immunsystem über die Jahrtausende an das Zusammenleben mit Haustieren – und deren Krankheitserregern und Mikroben gewöhnt. Nicht die herausgehobenen Pocken alleine werden verheerend tödlich für die amerikanischen Urbevölkerungen gewesen sein, sondern eine Vielzahl von Erregern, denen das Immunsystem nicht gewachsen war.)

Das Konzept von Segment und Sequenz liegt dann wieder vor im entwicklungsgeschichtlichen Quantensprung des griechischen Vokalalphabets. Dieses stellt ein abstraktes Medium dar, welches unabhängig von der akustischen Performance – also der Präsenz im hier und jetzt – eigene und fremde Sprachen ermöglichte visuell zu fixieren und vor allem zu reproduzieren und zu übersetzen. Dieser Wandel vom Akustischen zum Visuellen wird sich auch in der Gehinstruktur der Menschen dargestellt haben. Zeitgleich mit dem Auftreten des Vokalalphabets datiert die Niederschrift der Gesänge der Ilias und der Erzählung Odyssee. An diesem historischen Punkt belegt Theweleit mit XXX die These der grundsätzlichen Veränderung der Psyche: Die Götter treten nun nicht mehr real auf, was bedeutet hätte, die Menschen erleben Innen und Außen quasi-psychotisch und hören die Götter real. Dies nennt XXX eine bi-kamerale Psyche. Fortan werden die Götter internalisiert und sprechen als innere Stimmen, woraus sich ein neues Subjekt-Bewusstsein entwickelt, Grundlage unserer modernen Konzepte des psychischen Apparates.

In der Renaissance beschreibt Theweleit weitere Bezugspunkte des eurasiatischen Denkens: zuerst die Zentralperspektive und die Berechenbarkeit des Raumes. Damit einhergehend die Erfindung eines kontinuierlichen Illusionsraumes. Vollkommen selbstverständlich erscheint heute die einzigartige Sensation, die von den ersten Illusionsräumen der Malerei – sei es als Fresken innerhalb der Kirchenarchitektur oder danach in der Tafelmalerei, ausgegangen sein mag: Die visuelle Raum-Illusion setzt das schauende Individuum in Bezug zu einer Szene und einem sozusagen ‚geistig operierbaren‘ Raum.
Theweleit fragt, ob Gott bereits an diesem Moment in der europäischen Renaissance durch die Anwendung ‚universeller‘ Naturgesetzte und der Mathematik verschwindet, – oder ob dies erst mit einem weiteren Kultur- und Denkschritt stattfindet: der Kartografierung der Welt (-Kugel) und der endgültigen Eroberung oder Übernahme der göttlichen Perspektive durch den Menschen.

An vielzähligen Momenten der spanischen Conqista belegt Theweleit die Anwendung der Denkpraxis der Europäer und daraus erwachsenden Situationen spontaner Vorteilsnahme im kulturellen Kampf um reale Macht. Denn Cortés war militärisch keineswegs grundsätzlich, weil technisch, überlegen. Die Geschichte der Eroberung der Neuen Welt erscheint eher als ein einzigartiger Trick-Betrug an einem Gegenüber, dass nicht mit denselben Vorstellungen operiert.

Ein schönes Beispiel für diese Unterschiedlichkeit des Denken und auch der Konzepte von Welt und Wirklichkeit liefert übrigens der Ethnologe Hans-Peter Duerr in seinem Buch Traumzeit – Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation (1978), in welchem er (u.a.) indianische schamanische Praktiken gezielter Grenzüberschreitung mit Hilfe von Drogen aus der eigenen Befragung und aus den Texten anderer Wissenschaftler untersucht. Stets entsteht eine Diskussion des (westlichen) Wissenschaftlers mit dem indianischen Schamanen über die ‚Wirklichkeit‘ des Erlebens. Und es offenbart sich darin der fundamentale Unterschied: Der Angehörige der indianischen Kultur sieht (bzw. „denkt“) keine eindeutige Grenze zwischen ‚Einbildung‘ oder Sinnestäuschung und ‚objektiver‘ Realität (nach der, der westliche Wissenschaftler verlangt), als auch keine seelische Abgrenzung zu Tieren und Pflanzen, sondern vielmehr ein Einziges des Lebendigen. Viele Beispiele des Konfliktes im Denken stammen von Berichten des Ethnologen C. Castañeda aus den 1970er Jahren, der gemeinsam mit indianischen Schamanen oder ‚Hexen‘ (männlich und weiblich) bewusstseinserweiternde Drogen ausprobiert hat.

Duerr: „Wir haben gesehen, daß der Ethnologe sich mit dem magischen Coyoten verständigen konnte, weil etwas in ihm, wie der Indianer es ausdrückte, ‚zum Stillstand gekommen war‘, nämlich die gewöhnliche Wahrnehmungsweise des Alltags, in welcher der Coyote lediglich ein Exemplar einer zoologischen Spezies darstellt.
Diese alltägliche Wahrnehmungsweise läßt sich natürlich auch in entgegengesetzter Richtung verändern, etwa im Labor, in dem die fortschreitende ‚Entzauberung‘ der Wirklichkeit geradezu als Indiz der Annäherung an die Wahrheit, an die nackte Wahrheit angesehen wird.
Die Wirklichkeit ist danach ohne Farbe, ohne Stimme, ohne Gehör – nach Devereux schweigt uns Materie an: alles andere gehört zur Sphäre des Bewusstseins, und das Bewusstsein durchsetzt die Welt mit Lug und Tug.
Wir untersagten uns streng (…), schreibt Pawlow, solche psychologischen Ausdrücke zu benutzen wie – ‚der Hund erriet‘, ‚wollte‘, ‚wünschte‘, usw. Endlich begannen sich uns alle Erscheinungen, die uns interessierten, in einer anderen Form zu zeigen.
Auch bei diesen Forschern war also zusehends die Alltagswahrnehmung ‚zum Stillstand‘ gekommen, freilich in umgekehrter Richtung. Der Hund, der vielleicht noch zuvor freudig gebellt hatte, gab nun nur noch Laute von sich.
So schwer es die erste Zeit auch war, so gelang es mir doch schliesslich nach längerer Mühe und durch konzentrierte Aufmerksamkeit zu erreichen, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes objektiv wurde. (Pawlow)
Wie für den archaischen Menschen zeigt sich auch für diese Forscher die Wahrheit im Grunde, in der Tiefe, nachdem die Zwiebelringe des Bewusstseins, der Kultur, abgelöst worden sind. Aber wenn dem archaischen Menschen in diesem Grunde, im Ursprung die Dinge einerlei werden, indem die Spaltung der Dinge, ihre Differenzierung aufgehoben wird, spaltet und differenziert der Forscher auf eine noch viel konsequentere Weise, als es ohnehin in seiner Zivilisation üblich ist.
Er hat weder Ehrfurcht vor den Dingen, noch liebt er sie. Er wirft ein Netz über sie, er teilt sie und teilt sie ein.“
Duerr S. 139 f.

Offensichtlich unterläuft dem westlich zivilisierten Menschen ein historischer und chauvinistischer Denkfehler, wenn er aus der banalen Erklärung, die amerikanischen Urbevölkerungen haben die Conquistatores als Götter gesehen, abgeleitet hat, sie hätten sich im (westlichen) hierarchischen Sinne unterworfen bzw. unterwerfen wollen und müssen. Vielmehr gehörten die Fremden einer kontinuierlich magisch beseelten Welt an.

Zurück zu Theweleits HON:
In der Fortführung der Kolonisierung nach der gewaltsamen Überwältigung der amerikanischen Hochkulturen kommt der spanischen Bürokratie ein entscheidender Faktor zu. Sie stellt ein modernes Bemühen dar, eine Standardisierung (Segment und Sequenz) der Individuen und ihrer Aufgaben zu etablieren: eine hierarchische Einordnung in Funktion und Aufgabe verknüpft mit einem Wert – dem Geld (worin die eigentlich Triebkraft der sogenannten ‚Entdeckung‘, also Kolonisierung der neuen Territorien klar hervortritt: die ökonomische Ausbeutung von Ressourcen jedweder Art).

Auch wenn Theweleit an diesem Zeitpunkt die Kolonisierung und die ermöglichenden Dynamiken bereits erreicht hat, führt er das Konzept von Segment und Sequenz weiter bis in unsere strukturelle Gegenwart:
„Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wird der arbeitende Körper selber, und zwar auf allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens, zunehmend Gegenstand systematischer Zerteilung. Der Körper hat zu leisten und die Leistung wird gemessen. Sie wird gemessen in Relation zum Geldwert, den ein hergestelltes Produkt beim Verkauf ‚auf dem Markt‘ einbringt.“ (S. 317)